Die Bilder, die aus dem Archiv von RP Johnson stammen, zeigen eine Stadt, die im Sommer 1945 kaum wiederzuerkennen war: Berlin, wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches. Zwischen Schutt und Ruinen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, offenbaren die Aufnahmen einen seltenen, fast intimen Blick auf das Leben in der zerstörten Hauptstadt.
Der Stettiner Bahnhof, einst ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Norden Berlins, ist in den Fotos ein Symbol des Umbruchs. Wo früher Züge Reisende aus Pommern und Mecklenburg brachten, standen nun zerstörte Gleise, provisorische Züge und improvisierte Bahnhöfe. Menschen bewegten sich in einem Chaos aus Ziegelsteinen, Trümmern und notdürftig errichteten Holzbaracken. Die Bahnanlage, die einst für Geschäftigkeit und Bewegung stand, wurde zu einem Ort, an dem die Narben des Krieges nicht zu übersehen waren.
Der Juli 1945 war für Berlin eine besondere Zeit. Der Krieg war vorbei, doch der Frieden war brüchig. Die Stadt war zwischen den vier alliierten Mächten aufgeteilt – Amerikaner, Briten, Franzosen und Sowjets bestimmten nun den Alltag. Der Stettiner Bahnhof lag im sowjetischen Sektor. Hier spiegelte sich die neue Realität wider: sowjetische Soldaten patrouillierten, während Berliner versuchten, ihr Überleben im Alltag zu sichern.
Auf den Fotos erkennt man Menschen mit Koffern, Taschen, manchmal nur mit kleinen Bündeln. Viele waren Heimkehrer, die nach Jahren an der Front oder in Gefangenschaft nach Berlin zurückkehrten. Andere waren Flüchtlinge, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die Stadt kamen, in der Hoffnung auf ein neues Zuhause. Ihre Gesichter zeigen Erschöpfung, aber auch eine leise Hoffnung, dass nun eine neue Zeit beginnen könnte.
Besonders eindrucksvoll ist die Atmosphäre auf den Bahnsteigen. Zwischen zerstörten Wänden und eingestürzten Dächern versuchten Händler, Lebensmittel oder Habseligkeiten zu verkaufen. Kinder spielten zwischen Trümmern, Frauen suchten nach Wasser oder Brennholz. Alles wirkte provisorisch, nichts war geordnet. Und doch begann sich hier langsam wieder ein städtisches Leben zu entwickeln.
Der Stettiner Bahnhof selbst sollte bald eine ganz neue Geschichte bekommen. 1950 wurde er in Nordbahnhof umbenannt, um die Erinnerung an Stettin – das nun polnisch war – zu tilgen. Doch im Sommer 1945 war er noch immer ein Symbol der Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Fotos halten diesen Übergang fest: Züge, die kaum funktionierten, Menschen, die erschöpft wirkten, und Gebäude, die von Einschlägen und Bränden gezeichnet waren.
Der Blick in diese Aufnahmen macht deutlich, wie sehr Berlin im Sommer 1945 eine Stadt des Übergangs war. Auf der einen Seite lag die Vergangenheit in Trümmern: Hitlers „Welthauptstadt Germania“ war gescheitert, die Macht des Dritten Reiches in Asche zerfallen. Auf der anderen Seite versuchte die Bevölkerung, den Alltag neu zu erfinden. Es war eine Zeit des Improvisierens: Häuser wurden notdürftig repariert, Straßen gefegt, Brunnen genutzt, um Wasser zu schöpfen.
Die Aufnahmen zeigen auch die Präsenz der Sieger. Uniformierte Soldaten erscheinen neben Berliner Zivilisten, die die neue Machtordnung respektieren mussten. Kinder posieren neugierig für die Kamera, während Erwachsene skeptisch oder müde wirken. Für viele Berliner war es schwer, den Übergang zu akzeptieren: von Bürgern einer gescheiterten „Weltmacht“ zu Überlebenden einer besiegten und zerstückelten Nation.
Doch gerade diese Fotos sind so wertvoll. Sie zeigen, dass Geschichte nicht nur in großen Ereignissen geschrieben wird, sondern im Alltag der Menschen. Die Gesichter, die Gesten, die Kleidung – all das vermittelt mehr als Zahlen und Daten es könnten. Sie erzählen von einem Berlin, das nicht nur Opfer und Täter war, sondern auch eine Stadt voller Menschen, die nach dem Krieg weiterleben mussten.
Der Sommer 1945 in Berlin war geprägt von Hunger, Wohnungsnot und Unsicherheit. Gleichzeitig war er auch eine Zeit der Begegnung: Menschen aus verschiedenen Regionen, Nationen und Kulturen trafen hier aufeinander. Der Stettiner Bahnhof wurde so zu einem Brennpunkt dieser neuen Wirklichkeit – einem Ort, an dem sich die Tragödie des Krieges und die Hoffnung auf Neuanfang kreuzten.
Heute erinnern uns solche Aufnahmen daran, dass hinter jeder Ruine ein Mensch stand, hinter jedem zerstörten Bahnhof eine Geschichte. Der Stettiner Bahnhof im Juli 1945 war mehr als nur ein Verkehrsknotenpunkt – er war ein Spiegel der Zeit.