Im Jahr 1919, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, befand sich Deutschland in einer der größten sozialen und wirtschaftlichen Krisen seiner Geschichte. Millionen Soldaten kehrten heim, Fabriken standen still, die Inflation begann zu galoppieren – und vor allem fehlte es an bezahlbarem Wohnraum. Ein besonders erschütterndes Beispiel zeigt, wie elf Personen in nur einer einzigen Stube und einer kleinen Küche leben mussten. Dieses Schicksal war kein Einzelfall, sondern spiegelte die Realität vieler Familien jener Zeit wider.
Nach vier Jahren Krieg war ein Großteil der Städte verwüstet oder litt unter massiven Zerstörungen der Infrastruktur. Zahlreiche Männer waren gefallen oder kehrten verwundet zurück, wodurch viele Familien ihre Ernährer verloren. Gleichzeitig drängten Kriegsheimkehrer in die Städte, um Arbeit zu finden. Die ohnehin schon knappen Wohnungen wurden noch stärker nachgefragt, während kaum neue Bauten entstanden, da Baustoffe und Geld fehlten.
In solchen Verhältnissen lebten Familien oft in beengten Mietskasernen. Eine „Wohnung“ konnte aus nur einem Zimmer und einer winzigen Küche bestehen. Dort teilten sich Eltern, Kinder, Großeltern und manchmal weitere Verwandte ein paar Quadratmeter. Privatsphäre war praktisch nicht vorhanden. Betten wurden im Schichtbetrieb genutzt, manche schliefen auf dem Boden. Licht und Luft kamen nur spärlich durch kleine Fenster, und Heizung sowie sanitäre Anlagen waren unzureichend. Krankheiten wie Tuberkulose oder Grippe verbreiteten sich leicht.
Das Beispiel der elfköpfigen Familie zeigt die Verzweiflung deutlich. Tagsüber diente die Stube als Wohn- und Arbeitsraum, nachts verwandelte sie sich in ein Schlaflager. Die Küche war nicht nur zum Kochen da, sondern oft auch zum Waschen und für die Körperpflege – falls überhaupt fließend Wasser vorhanden war. Kinder wuchsen in einer Atmosphäre ständiger Enge auf, ohne Platz zum Spielen oder Lernen. Lärm, schlechte Luft und fehlende Hygiene führten zu chronischen Gesundheitsproblemen.
Die Wohnungsnot hatte tiefe soziale Folgen. Streit und Gewalt nahmen zu, weil Menschen kaum Rückzugsräume hatten. Gleichzeitig förderte die Misere neue politische Bewegungen: Arbeitersiedlungen, Genossenschaften und erste Ansätze des sozialen Wohnungsbaus entstanden, um dem Elend zu begegnen. Auch in der Weimarer Republik wurde bald erkannt, dass bezahlbarer Wohnraum ein zentrales gesellschaftliches Thema war. In den 1920er-Jahren starteten deshalb kommunale Bauprojekte wie die berühmten Siedlungen in Berlin oder Frankfurt am Main, die bis heute als Vorbilder für sozialen Wohnungsbau gelten.
Die Lage verschärfte sich jedoch zunächst weiter, weil die wirtschaftliche Erholung langsam verlief. Inflation und politische Unruhen machten Investitionen schwierig. Erst Mitte der 1920er-Jahre führten gezielte Programme wie der „Hauszinssteuer“-finanzierte Wohnungsbau zu einer spürbaren Verbesserung. Bis dahin mussten unzählige Familien jahrelang unter menschenunwürdigen Bedingungen ausharren.
Historiker sehen in solchen Zeitzeugenberichten wichtige Mahnungen. Sie erinnern daran, wie essenziell Wohnraum für soziale Stabilität ist. Die Erfahrung von 1919 lehrt, dass wirtschaftliche Krisen sofort auf das Wohnen durchschlagen und besonders die ärmeren Schichten treffen. Sie zeigt auch, wie staatliche und kommunale Maßnahmen – etwa der soziale Wohnungsbau – entscheidend sein können, um humanitäre Notlagen zu lindern.
Heute, über ein Jahrhundert später, klingt die Geschichte von elf Menschen in einer Stube und Küche fast unvorstellbar. Doch sie mahnt, dass Wohnungsnot kein vergangenes Phänomen ist. Auch in vielen modernen Städten wird Wohnraum wieder knapp und teuer. Die damaligen Erfahrungen können Ansporn sein, rechtzeitig für ausreichend bezahlbare Wohnungen zu sorgen.