Vertriebene und Versöhnung: Wie Heimatvertriebene Brücken in den Osten schlugen und Erinnerung bewahrten.H
Wenn man heute über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert spricht, führt kein Weg an der Erfahrung von Flucht und Vertreibung vorbei. Millionen Deutsche verloren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat im Osten – in Schlesien, Ostpreußen, Pommern, dem Sudetenland oder anderen Regionen. Zurück blieb nicht nur der Schmerz über verlorene Häuser, Felder und Städte, sondern auch eine tiefe Sehnsucht nach Erinnerung und Verständnis.
Die Worte von Andreas Kossert, einem der bedeutendsten Historiker zu diesem Thema, bringen es auf den Punkt: „Es waren die Vertriebenen, die über Jahrzehnte Brücken in den Osten gebaut haben.“ Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint – Menschen, die selbst Opfer von Gewalt, Enteignung und Entwurzelung geworden sind, setzen sich später für Dialog und Versöhnung ein – wurde zur Lebensaufgabe vieler.
Nach 1945 standen die Vertriebenen zunächst vor einer gewaltigen Herausforderung. Sie mussten in West- und Ostdeutschland neu anfangen. Nicht selten begegnete ihnen Skepsis oder Ablehnung, denn die einheimische Bevölkerung hatte ihre eigenen Kriegsnöte hinter sich. Viele Vertriebenenfamilien wurden in provisorischen Unterkünften untergebracht, litten unter Armut und Ausgrenzung. Dennoch entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte starke Gemeinschaften, die ihre kulturellen Traditionen, ihre Dialekte, Bräuche und auch die Erinnerung an ihre alte Heimat bewahrten.
Diese Erinnerung war jedoch nicht nur rückwärtsgewandt. Viele Verbände, Landsmannschaften und Kulturgruppen bemühten sich, ihre Geschichte in einen größeren europäischen Kontext zu stellen. Statt die Vergangenheit zu verklären, versuchten sie, ein Bewusstsein für den Verlust, aber auch für die gemeinsame Verantwortung der Völker zu schaffen.
In den 1970er- und 1980er-Jahren, als die politischen Fronten des Kalten Krieges scheinbar unüberwindbar waren, knüpften viele Vertriebene bereits Kontakte in ihre alte Heimat. Oft waren es private Initiativen, kulturelle Begegnungen oder kleine Hilfsaktionen, die Wege zueinander öffneten. Aus diesen Kontakten entstanden Partnerschaften, Städtefreundschaften und kulturelle Austauschprojekte.
Ein Beispiel: Viele schlesische Vertriebenenverbände pflegten Kontakte nach Breslau (Wrocław). Sie organisierten gegenseitige Besuche, halfen bei Restaurierungsarbeiten in Kirchen oder unterstützten soziale Einrichtungen. So entstand Stück für Stück eine neue Beziehung, die nicht auf Forderungen oder Schuldzuweisungen beruhte, sondern auf dem Wunsch, eine gemeinsame Geschichte zu bewahren und die Zukunft friedlich zu gestalten.
Die Rolle der Vertriebenen war und ist dabei nicht selbstverständlich. Nach dem Krieg hätte es naheliegend sein können, in Bitterkeit zu verharren oder nur das eigene Leid zu betonen. Doch viele entschieden sich bewusst für einen anderen Weg. Sie verstanden, dass dauerhafter Frieden in Europa nur möglich ist, wenn die Völker über Grenzen hinweg miteinander sprechen und sich annähern.
Gerade deshalb kann man sagen: Die Vertriebenen wurden zu wahren Brückenbauern. Sie schufen durch ihre Initiativen Voraussetzungen dafür, dass sich Deutsche, Polen, Tschechen oder Ungarn wieder begegnen konnten. Sie hielten Erinnerungen wach, aber nicht, um neue Grenzen zu ziehen, sondern um Gemeinsamkeiten zu betonen.
Bis heute spielt das kulturelle Erbe der Vertriebenen eine wichtige Rolle. Museen, Bibliotheken und Dokumentationszentren bewahren Zeugnisse der verlorenen Heimat: Bilder, Bücher, handwerkliche Gegenstände, Trachten und Lieder. Diese Schätze sind mehr als nur Relikte. Sie sind Teil der deutschen Geschichte und zeigen, dass der Osten des alten Deutschlands untrennbar mit der europäischen Kulturgeschichte verbunden ist.
Andreas Kossert betont zu Recht: „Sie sind es, die das Erbe und die Erinnerung an den historischen deutschen Osten pflegen und bewahren, was eigentlich Aufgabe aller Deutschen ist.“ Damit spricht er einen zentralen Punkt an: Vertreibung betrifft nicht nur diejenigen, die sie erlebt haben, sondern ist ein Teil der gesamten deutschen Erinnerungskultur.
Bedeutung für die Gegenwart
In einer Zeit, in der Europa wieder mit Fragen von Flucht, Migration und Identität konfrontiert ist, können die Erfahrungen der Heimatvertriebenen Orientierung geben. Sie zeigen, dass selbst nach erlittenem Unrecht Versöhnung möglich ist. Sie machen deutlich, dass kulturelles Gedächtnis nicht im Rückblick verharren muss, sondern Impulse für eine friedliche Zukunft geben kann.
Viele junge Menschen, deren Großeltern einst vertrieben wurden, beschäftigen sich heute mit dieser Geschichte. Sie reisen in die alte Heimat ihrer Familien, suchen nach Spuren, pflegen Kontakte zu Menschen vor Ort. Oft stellen sie fest: Die gemeinsame Erinnerung kann Brücken schlagen, wenn man sie nicht zur Abgrenzung, sondern zur Begegnung nutzt.
Fazit
Die Geschichte der Heimatvertriebenen ist eine Geschichte von Leid und Verlust – aber auch von Hoffnung, Dialog und Neubeginn. Sie haben bewiesen, dass selbst tiefste Wunden der Vergangenheit heilen können, wenn Menschen bereit sind, Brücken zu bauen.
Das Vermächtnis dieser Generation sollte uns heute ermutigen, über Grenzen hinweg aufeinander zuzugehen und Erinnerung als Chance für Verständigung zu begreifen. Denn die Aufgabe, die Vergangenheit wachzuhalten und daraus Verantwortung abzuleiten, ist nicht nur die der Vertriebenen, sondern die aller Deutschen – und letztlich die aller Europäer.