Wenn man das Wort Vertreibung hört, denkt man oft an Karten, Grenzen und politische Entscheidungen. Doch für Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern bedeutete dieses Wort etwas ganz anderes – den Verlust von Heimat, Familie und Identität.
Arno Surminski, selbst Kind der Vertreibung, fand Worte, die dieses Schicksal greifbar machen. „Bei dem Wort Vertreibung sehe ich einen Güterzug durch eine verschneite Landschaft kriechen“, schreibt er. „Kein Lachen, kein fröhliches Winken. Frauen und alte Männer sitzen, in graue Decken gehüllt, auf ausgelegtem Stroh. Aus halb geöffneten Türen lugen Kindergesichter – immer noch neugierig auf das, was die Welt ihnen zu bieten hat. Vielen Kindern brachte die Vertreibung die erste Eisenbahnreise ihres Lebens.“
Dieses Bild ist tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Der Winter 1944/45 war einer der kältesten des Jahrhunderts. Während die Front immer näher rückte, verließen Hunderttausende Menschen ihre Dörfer in Ostpreußen – zu Fuß, auf Schlitten oder in überfüllten Zügen. Sie flohen vor der Roten Armee, in der Hoffnung, im Westen Sicherheit zu finden. Doch für viele endete diese Flucht in Schnee, Hunger und Tod.
Surminski schildert in seinem Werk „Eine lange Flucht aus Ostpreußen“ das Schicksal dieser Menschen mit einer eindringlichen Mischung aus Empathie und Sachlichkeit. Er selbst war ein Kind, als seine Familie aus Ostpreußen fliehen musste. Seine Worte sind keine bloßen historischen Berichte – sie sind Erinnerungen, die er als Zeitzeuge weiterträgt.
Die Geschichten handeln nicht nur von Verlust, sondern auch von Überlebenswillen. Frauen, die ihre Kinder durch Schneestürme trugen. Alte Männer, die ihre letzten Kräfte aufbrachten, um Wagen zu ziehen. Kinder, die trotz allem lachten, wenn sie zum ersten Mal Schneeberge sahen, ohne zu wissen, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren würden.
Was viele nicht wissen: Rund 12 bis 14 Millionen Deutsche wurden zwischen 1944 und 1950 aus den Ostgebieten vertrieben. Es war die größte Zwangsumsiedlung der europäischen Geschichte. Ganze Regionen, die jahrhundertelang deutsch geprägt waren – Ostpreußen, Schlesien, das Sudetenland – verschwanden von der Landkarte.
Nach dem Krieg begann für die Überlebenden eine zweite, stille Flucht: die Integration im zerstörten Nachkriegsdeutschland. Viele wurden nicht willkommen geheißen. Man nannte sie „Flüchtlinge“ oder „Vertriebene“, oft mit Misstrauen oder Ablehnung. Erst Jahrzehnte später begann eine offene Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal – und Autoren wie Arno Surminski spielten dabei eine entscheidende Rolle.
Seine Werke sind keine Anklage, sondern ein Versuch, zu erinnern und zu verstehen. Er zeigt, dass hinter jedem historischen Datum menschliche Schicksale stehen: Mütter, die ihr Zuhause verloren, Kinder, die ihren Vater nie wieder sahen, und alte Menschen, die im Westen eine neue Heimat finden mussten – mit Akzent, mit Erinnerungen, aber ohne Landkarte.
Heute, 80 Jahre später, ist das Thema Vertreibung für viele junge Menschen kaum noch greifbar. Die letzten Zeitzeugen sterben, und mit ihnen verschwinden Erinnerungen, die uns lehren könnten, was Krieg und Entwurzelung wirklich bedeuten. Gerade deshalb ist es wichtig, Bücher wie „Eine lange Flucht aus Ostpreußen“ zu lesen – nicht, um Schuld zu suchen, sondern um Mitgefühl zu bewahren.
Denn die Geschichte der Vertreibung ist nicht nur eine deutsche Geschichte. Sie steht stellvertretend für das Leid unzähliger Menschen weltweit, die ihre Heimat durch Krieg, Gewalt oder politische Entscheidungen verloren haben.
Arno Surminski selbst sagte einmal: „Ich schreibe, damit die, die damals Kinder waren, nicht vergessen werden.“
Seine Worte sind Mahnung und Erinnerung zugleich – an eine Generation, die alles verlor, und dennoch weitermachte.