Meine Großeltern haben keine Heimat mehr gefunden. Ihre verlorene Heimat ließ sich nicht ersetzen. Sie mussten zwischen dem Verlorenen und dem Neuen hin- und herlavieren.“
Mit diesen bewegenden Worten beschreibt Andreas Kossert das Schicksal von Millionen Deutschen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat im Osten vertrieben wurden. Seine Worte stehen für eine Generation, die alles verlor – ihr Zuhause, ihre Wurzeln, ihre Vergangenheit.
Nach 1945 begann für rund 12 bis 14 Millionen Menschen eine der größten Flüchtlingsbewegungen der europäischen Geschichte. Familien, die über Generationen in Ostpreußen, Schlesien, Pommern oder dem Sudetenland gelebt hatten, mussten plötzlich ihre Häuser verlassen – oft mit nichts weiter als einem Koffer und der Hoffnung auf Sicherheit. Sie wurden in Viehwaggons verfrachtet, über zerstörte Länder transportiert, und fanden sich schließlich in einem Deutschland wieder, das selbst in Trümmern lag.
Doch die wahre Tragödie begann nicht auf der Flucht – sondern danach.
Diejenigen, die im Westen ankamen, waren Fremde im eigenen Land. Sie wurden „Flüchtlinge“ oder „Vertriebene“ genannt, oft mit einem misstrauischen oder spöttischen Unterton. Viele Einheimische betrachteten sie als Konkurrenz um knappen Wohnraum und Lebensmittel. In den Dörfern und Städten mussten die Neuankömmlinge ihre Existenz ganz von vorne aufbauen – in Baracken, Scheunen oder Notunterkünften.
Andreas Kossert beschreibt in seinem Buch „Kalte Heimat – Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“ diese Zeit mit erschütternder Genauigkeit. Er zeigt, dass die „Kälte“ nicht nur das Klima des Nachkriegswinters meint, sondern auch die emotionale und gesellschaftliche Kälte, mit der viele Vertriebene empfangen wurden. Ihre Geschichten wurden jahrzehntelang verdrängt, ihre Traumata ignoriert.
Viele Familien schwiegen über das Erlebte. Die Kinder und Enkel erfuhren erst viel später, was wirklich geschehen war – dass ihre Großeltern einst Land, Haus und alles Vertraute verloren hatten. Diese Stille war oft schmerzhaft, aber sie schützte auch vor einem Land, das damals keine Zeit für Mitgefühl hatte. Der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder – all das ging nur voran, weil Millionen Vertriebene mit anpackten, ohne ihre Vergangenheit je ganz hinter sich lassen zu können.
Kossert erinnert daran, dass Heimat mehr ist als ein Ort. Heimat ist Erinnerung, Geruch, Sprache, Landschaft. Wer sie verliert, verliert ein Stück seiner selbst. Und dieser Verlust ließ sich nicht einfach ersetzen. Für viele blieb das Gefühl des Fremdseins ein lebenslanger Begleiter – selbst Jahrzehnte später, in neu gebauten Häusern, mit neuen Nachbarn und neuen Pässen.
Doch trotz allem haben die Vertriebenen die Nachkriegsgesellschaft Deutschlands entscheidend geprägt. Sie brachten ihre Kultur, ihre Musik, ihre Küche und ihren Fleiß mit. Sie halfen beim Wiederaufbau zerstörter Städte, gründeten Unternehmen, gründeten Familien. Ihr Beitrag wurde lange unterschätzt – doch ohne sie wäre die Geschichte der Bundesrepublik eine andere gewesen.
Heute, fast 80 Jahre später, wird das Thema der Vertreibung wieder neu entdeckt. Zeitzeugen werden älter, ihre Geschichten drohen zu verschwinden. Umso wichtiger sind Bücher wie „Kalte Heimat“, die das Erinnern wachhalten. Kossert schreibt nicht aus Anklage, sondern aus Verständnis. Er zeigt, dass das Leid der Vertriebenen nicht im Schatten anderer Kriegsverbrechen stehen muss – sondern als Teil einer gemeinsamen europäischen Erinnerung verstanden werden sollte.
Denn am Ende bleibt eine universelle Wahrheit: Heimatverlust kennt keine Nation.
Ob Deutsche, Polen, Ukrainer oder Syrer – wer seine Heimat verliert, verliert ein Stück seines Herzens.
„Kalte Heimat“ erinnert uns daran, dass Mitgefühl und Erinnerung die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind.