Tabubruch in Brüssel: Wie eine Allianz aus Konservativen und AfD das EU-Lieferkettengesetz zerlegte und die Brandmauer einriss .H
Ein politisches Beben erschütterte am vergangenen Donnerstag die Grundfesten des Europäischen Parlaments in Brüssel. Es war ein Tag, der in den Gängen der EU-Institutionen noch lange nachhallen wird, ein Tag, der als “historischer Tabubruch” und “Fall der Brandmauer” bezeichnet wird. Auf der Tagesordnung stand eine Abstimmung über das vieldiskutierte EU-Lieferkettengesetz. Doch das Ergebnis war mehr als nur eine technische Anpassung eines Gesetzes; es war eine politische Machtdemonstration mit weitreichenden symbolischen und realen Konsequenzen.
Das EU-Parlament stimmte für eine massive Abschwächung der “Corporate Sustainability Due Diligence Directive” (CSDDD), eines Gesetzes, das große Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen wie Kinderarbeit und für schwere Umweltschäden in ihren globalen Lieferketten zur Verantwortung ziehen sollte. Doch die eigentliche Bombe platzte nicht im Inhalt, sondern in der Arithmetik der Macht: Die Mehrheit für diese Lockerung kam durch eine bis dato undenkbare Allianz zustande. Die konservative Europäische Volkspartei (EVP), die Fraktion von CDU und CSU, stimmte Seite an Seite mit rechtskonservativen und rechtsextremen Fraktionen, darunter die ESN, der auch die deutsche AfD angehört.
Während auf progressiver Seite Entsetzen herrscht, feiern rechte Akteure dies als einen strategischen Triumph. In den sozialen Medien und auf Kanälen wie “EILMELDUNG” wird das Ereignis als “riesige AfD-Sensation” gefeiert. Die AfD habe, so der Tenor, das Lieferkettengesetz “gekippt”. Man spricht von einem “riesigen Erfolg”, der vor allem durch eine kluge Bündnispolitik und das Nutzen von “Partnern” möglich wurde, die in solchen Momenten “Gold wert” seien. Die Grünen und Linken, so heißt es triumphierend, “toben vor Wut”.
Diese Darstellung, obwohl zugespitzt, trifft einen wahren Kern. Das Gesetz wurde zwar nicht “gekippt”, aber es wurde bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Und die Wut der Pro-Europäer ist real. Um zu verstehen, was an diesem Donnerstag in Brüssel geschah, muss man den Schleier der Propaganda lüften und die Anatomie eines kalkulierten Tabubruchs betrachten.

Der gescheiterte Kompromiss und der Griff nach rechts
Dem Eklat im Plenum ging ein wochenlanges Ringen voraus. Ursprünglich hatten sich die großen “pro-europäischen” Fraktionen – die konservative EVP, die Sozialdemokraten (S&D) und die Liberalen (Renew) – auf einen Kompromiss geeinigt. Diese informelle “große Koalition” bildet traditionell das Rückgrat der EU-Gesetzgebung. Doch dieser Kompromiss scheiterte vor einigen Wochen überraschend.
Nach diesem Scheitern stand die EVP vor einer Wahl: zurück an den Verhandlungstisch mit S&D und Liberalen, um einen neuen Kompromiss der Mitte zu finden, oder eine alternative Mehrheit suchen. Die Fraktion unter Führung des CSU-Politikers Manfred Weber wählte die zweite Option. Sie brachte eigene, weitaus radikalere Änderungsanträge ein, die das Lieferkettengesetz fundamental schwächen sollten.
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Diese Anträge hatten in der politischen Mitte keine Chance. Weber und die EVP-Führung wussten, dass sie diese “Korrektur” nur mit Unterstützung von Kräften durchsetzen konnten, die rechts von ihnen stehen. Und genau das taten sie. Die neue Mehrheit formierte sich aus der EVP, der rechtskonservativen EKR (u.a. Giorgia Melonis Fratelli d’Italia), der rechtsextremen PfE (u.a. Viktor Orbáns Fidesz) und der ebenfalls rechtsextremen ESN-Fraktion, zu der die AfD gehört.
Das Abstimmungsergebnis war eindeutig. Mit 382 zu 249 Stimmen bei 13 Enthaltungen wurde das Gesetz massiv gelockert.
Was die “Lockerung” bedeutet: Weniger Schutz, weniger Unternehmen
Die jubelnden Kommentatoren von rechts sprechen davon, einen “Bürokratie-Wahnsinn” abgewendet zu haben. Die von der EVP geführte Koalition präsentierte ihre Anträge als “Entlastung” für die Wirtschaft. Was sie konkret bedeuten, ist eine drastische Reduzierung des Anwendungsbereichs und der Wirksamkeit des Gesetzes.
Der Kern der Abschwächung liegt in den Schwellenwerten. Ursprünglich sollte das Gesetz für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern und einem weltweiten Jahresumsatz von 450 Millionen Euro gelten. Die neue, beschlossene Regelung hebt diese Grenzen dramatisch an: auf Unternehmen mit mindestens 5.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Euro.
Experten schätzen, dass durch diese Änderung rund 70 Prozent der ursprünglich erfassten Unternehmen nun doch nicht mehr unter das Gesetz fallen. Es sind nur noch die absoluten Branchenriesen betroffen.
Darüber hinaus wurden weitere zentrale Elemente des Gesetzes gestrichen oder stark verwässert. Die Verpflichtung für Unternehmen, konkrete Pläne zur Einhaltung der Pariser Klimaziele auszuarbeiten, wurde entfernt. Ebenso wurden die Regeln zur zivilrechtlichen Haftung, die es Opfern von Menschenrechtsverletzungen ermöglicht hätte, europäische Unternehmen vor EU-Gerichten zu verklagen, massiv eingeschränkt.
Manfred Weber (CSU), der Architekt dieser neuen Mehrheit, verteidigte den Schritt auf der Plattform X (ehemals Twitter): “Heute ist ein guter Tag für Europas Wettbewerbsfähigkeit”, schrieb er. Man habe Bürokratie abgebaut und ein Versprechen an den Mittelstand eingelöst.
Die AfD-Europaabgeordnete Mary Khan stimmte in den Jubel ein: “Mit dem Fall der Brandmauer sei es einer Mehrheit auf der rechten Seite gelungen, schädliche Klima-Gesetzgebung abzuschwächen und dringend benötigte Entlastungen für unsere Unternehmen zu erreichen.”

“Tabubruch”: Das Entsetzen der Mitte-Links-Fraktionen
Die Reaktionen der bisherigen Partner der EVP fielen verheerend aus. Das Entsetzen richtete sich weniger gegen die Inhalte – über die man hätte streiten können – als vielmehr über die Art und Weise, wie diese Mehrheit zustande kam.
Seit Jahren galt im EU-Parlament ein “Cordon Sanitaire”, eine “Brandmauer” der demokratischen Mitte. Diese informelle Übereinkunft besagte, dass die großen Fraktionen (EVP, S&D, Liberale, Grüne) nicht mit den als antidemokratisch und extremistisch eingestuften Fraktionen am rechten Rand zusammenarbeiten, um Gesetze durchzusetzen. Diese Brandmauer hat Manfred Weber nun, so der Vorwurf, bewusst eingerissen.
Anna Cavazzini, Grünen-Abgeordnete und Vorsitzende des Binnenmarktausschusses, sprach von einer “gefährlichen Grenzüberschreitung”. Erstmals habe Webers EVP “ein Gesetz bewusst und kalkuliert mit den Stimmen der extrem Rechten durch das Parlament gebracht”.
René Repasi, der zuständige Berichterstatter der SPD-Fraktion (S&D), wurde noch deutlicher: “Wer Änderungsanträge einbringt, die nur mit Extremisten durchsetzbar sind, kooperiert mit ihnen.” Er sprach von einem “Tabubruch” und einem “Schulterschluss mit den Rechtsextremen”. Die EVP, so Repasi, habe sich für einen “schwarzen Tag für die Menschenrechte und für Europa” entschieden.
Auch die Liberalen zeigten sich schockiert. Die Fraktionsvorsitzende Valérie Hayer warf der EVP eine “rücksichtslose Bereitschaft” vor, “sich auf Kosten der pro-europäischen Mitte Europas auf die Seite der extremen Rechten zu stellen”.
Das eigentliche Ziel: Was ist das Lieferkettengesetz (CSDDD)?
In der hitzigen Debatte um Brandmauern und politische Taktik gerät fast aus dem Blick, worum es bei dem Gesetz eigentlich geht. Die CSDDD, oft als EU-Lieferkettengesetz bezeichnet, ist ein Kernprojekt der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (selbst EVP).
Das Ziel war, einen Paradigmenwechsel einzuleiten: weg von freiwilliger Selbstverpflichtung der Unternehmen, hin zu verbindlichen, gesetzlichen Regeln. Große Unternehmen sollten verpflichtet werden, ihre gesamten Wertschöpfungsketten – vom Rohstoffabbau in Afrika oder Asien bis zum Verkauf in Europa – zu durchleuchten. Sie sollten Risiken für Menschenrechte (Zwangsarbeit, Kinderarbeit, Ausbeutung) und Umwelt (Abholzung, Umweltverschmutzung) identifizieren und aktiv abstellen.
Das Gesetz war die europäische Antwort auf eine Globalisierung, die Profite oft über Menschen und Umwelt stellt. Es war ein Versuch, die Macht der EU als weltgrößter Binnenmarkt zu nutzen, um globale Standards zu setzen.
Die nun beschlossene Verwässerung macht dieses Vorhaben in weiten Teilen zunichte. Es sendet das Signal, dass der Schutz von Profiten und die “Wettbewerbsfähigkeit” im Zweifel Vorrang vor dem Schutz von Kindern in Kobaltminen oder der Einhaltung von Klimazielen haben.

Ein Vorbote für die Zukunft Europas?
Die Abstimmung vom Donnerstag ist mehr als eine Einzelfallentscheidung. Sie wirft ein Schlaglicht auf die tektonischen Verschiebungen in der europäischen Politik. Die AfD und ihre Partner feiern nicht nur die Abschwächung eines unliebsamen Gesetzes. Sie feiern den Beweis, dass sie nicht länger isoliert sind. Sie feiern den Beweis, dass die “Brandmauer”, die sie politisch marginalisieren sollte, brüchig ist.
Die Strategie, die im Quellvideo angedeutet wird – das “Ausweiten” von Partnerschaften nach Amerika, nach Ungarn und anderswo – erweist sich als erfolgreich. Die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in Europa sind besser vernetzt als je zuvor und verstehen es, ihren Einfluss zu nutzen.
Für die konservative EVP, insbesondere für die deutsche CDU/CSU unter Friedrich Merz, der selbst in Deutschland für eine Aufweichung des nationalen Lieferkettengesetzes plädiert, stellt sich nun eine Grundsatzfrage. War dies ein einmaliger “Ausrutscher” im Dienste der Wirtschaftslobby? Oder war es der Beginn einer neuen Normalität, einer “Mitte-Rechts”-Kooperation, die die extreme Rechte bewusst als Mehrheitsbeschaffer in Kauf nimmt?
Die Sozialdemokraten und Grünen haben bereits gedroht, dass dieser “Bruch” die Zusammenarbeit der “pro-europäischen Fraktionen” in Zukunft massiv beeinträchtigen wird. Dies könnte die EU in einer Zeit globaler Krisen, die mehr denn je Handlungsfähigkeit erfordert, lähmen.
Der Jubel der AfD über ihre “Sensation” ist daher mehr als nur Propaganda. Er ist der Ausdruck eines realen Machtgewinns. Die Brandmauer in Brüssel hat am Donnerstag nicht nur gebröckelt – sie wurde von denen, die sie einst erbaut haben, aktiv eingerissen.



