Mitten im zerbombten Mitteleuropa des Jahres 1945 steht ein Lastwagenanhänger auf einer gepflasterten Straße – nicht beladen mit Kriegsmaterial, sondern mit einem überlebensgroßen Propagandabanner: Ein sowjetischer Soldat mit erhobenem Gewehr stürmt voran. Daneben prangt in großen Lettern: „Na Berlin!“ – „Auf nach Berlin!“. Darüber hängt ein Verkehrsschild: „271 km bis BERLIN“. Diese Szene, festgehalten in einem seltenen Schwarzweißfoto, erzählt auf eindrucksvolle Weise vom letzten Kapitel des Zweiten Weltkriegs – dem unaufhaltsamen Vormarsch der Roten Armee in das Herz des Dritten Reiches.
Die Aufnahme stammt vermutlich aus den ersten Monaten des Jahres 1945. Zu diesem Zeitpunkt hatten sowjetische Truppen bereits große Teile Ostpreußens, Polens und Schlesiens erobert. Die Front war längst auf deutschem Boden angekommen. Städte wie Königsberg, Breslau oder Posen waren heftig umkämpft oder schon gefallen. Für viele deutsche Zivilisten und Soldaten war die Lage aussichtslos geworden – die Rote Armee schob sich Tag für Tag weiter nach Westen.
Das Schild „271 km bis Berlin“ war dabei kein bloßes Orientierungsmittel, sondern ein psychologisches Werkzeug. Es sollte den sowjetischen Soldaten das Ziel greifbar machen – die Hauptstadt des Naziregimes lag in erreichbarer Nähe. Gleichzeitig war es ein Symbol für Entschlossenheit und Vergeltung. Millionen von Sowjetbürgern hatten unter dem deutschen Angriffskrieg und den Gräueltaten der Wehrmacht und SS gelitten. Die Schlacht um Berlin wurde zur Chiffre für Gerechtigkeit und Sieg.
Das propagandistische Bild, das auf dem Anhänger montiert ist, zeigt nicht nur kämpfende Soldaten, sondern auch eine klare Botschaft: Die Rote Armee marschiert nicht nur zur Befreiung, sondern auch zur endgültigen Zerschlagung des Feindes. Es ist ein klassisches Beispiel sowjetischer Kriegspropaganda – direkt, plakativ und emotional aufgeladen. Solche mobilen Plakate begleiteten oft Kolonnen an der Front, um Moral zu stärken und den Siegeswillen zu untermauern.
Im Hintergrund erkennt man eine typische deutsche Kleinstadt. Die Gebäude wirken noch relativ unversehrt, was darauf hindeutet, dass sich die Frontlinie möglicherweise gerade erst in Bewegung gesetzt hatte. Zivilisten sind kaum zu sehen – stattdessen stehen vier Männer in Militäruniform vor dem Plakat, vermutlich sowjetische Offiziere oder politische Kommissare. Sie wirken ruhig, fast gelassen – als wüssten sie, dass das Ende des Krieges unausweichlich näher rückt.
Im Frühjahr 1945 war der Weg nach Berlin eine einzige Spur der Verwüstung. Millionen Soldaten, Tausende Panzer und Flugzeuge waren in Bewegung. Der Vormarsch kostete jedoch unzählige Leben – sowohl auf sowjetischer als auch auf deutscher Seite. Städte wie Frankfurt an der Oder, Küstrin oder Seelow wurden zu Brennpunkten blutiger Gefechte. Erst Ende April 1945 erreichte die Rote Armee schließlich die Hauptstadt.
Am 2. Mai 1945 fiel Berlin – Adolf Hitler war bereits tot, das Dritte Reich am Ende. Doch der Preis für diesen Sieg war hoch. Allein bei der Schlacht um Berlin kamen schätzungsweise 80.000 sowjetische und über 90.000 deutsche Soldaten ums Leben. Hunderttausende Zivilisten verloren ihre Wohnungen oder ihr Leben. Die Stadt selbst lag in Trümmern.
Das Bild mit dem „271 km“-Schild ist deshalb weit mehr als ein simples Propagandabild. Es ist ein Mahnmal für den letzten Abschnitt eines der zerstörerischsten Kriege der Menschheitsgeschichte. Es zeigt, wie nah die Hoffnung auf ein Ende – aber auch die endgültige Zerstörung – zu diesem Zeitpunkt beieinander lagen.
Heute, Jahrzehnte später, ist das Schild längst verschwunden. Berlin wurde wieder aufgebaut, Europa vereint sich – doch die Bilder aus dem Jahr 1945 erinnern uns bis heute an die dunklen Tage des Krieges. Sie mahnen zur Wachsamkeit, zur Erinnerung und zur Verantwortung, damit sich solche Szenen nie wieder wiederholen.