Inmitten der zerstörten Straßen Berlins, zwischen Ruinen, Rauch und Stille, tauchen sie immer wieder auf: zwei Männer mit Fahrrädern. In einer Reihe sowjetischer Fotografien aus den Tagen nach der Schlacht um Berlin im Mai 1945 sind sie mehrfach zu sehen – immer in der Nähe von Kameras, Kriegsreportern, Soldaten. Wer waren sie? Zufällige Berliner Bürger? Heimkehrer? Oder stille Chronisten der Geschichte?
Eines dieser Fotos zeigt einen von ihnen an einer Straßenkreuzung. Im Hintergrund: ein beschädigtes Gebäude, zerborstene Fenster, Spuren der Gewalt. Ein Straßenschild hängt schräg an einem verbogenen Mast – „Brommystraße“ und „Müntelstraße“ kann man noch erkennen. Der Mann, vielleicht Anfang 40, trägt einen langen Mantel, eine Militärmütze – aber keine Waffe. Nur ein altes Fahrrad, das er ruhig an der Hand hält. Sein Blick ist nach oben gerichtet, vielleicht zu einem Fotografen oder in den Himmel. Der Regen glänzt auf dem Asphalt – eine Momentaufnahme zwischen Vergangenheit und Neubeginn.
Warum sind diese beiden Radfahrer auf so vielen Bildern zu sehen? Historiker und Fotoanalysten haben diese Frage mehrfach gestellt. Manche glauben, es handele sich um Berliner Zivilisten, die den sowjetischen Fotografen einfach folgten – neugierig, was passiert. Andere vermuten, sie könnten selbst Mitglieder einer sowjetischen Film- oder Fotogruppe gewesen sein, zuständig für Transport oder Logistik. Fahrräder waren im zerstörten Berlin wertvoll – Benzin war knapp, Autos selten. Mit dem Rad war man schneller und beweglicher.
Was dieses Foto – und viele andere – jedoch so besonders macht, ist die stille Präsenz. Die Radfahrer tun nichts Spektakuläres. Sie posieren nicht, kämpfen nicht, fliehen nicht. Und doch sind sie da – Zeugen der Stunde Null, eingebettet in eine Stadt am Rand des totalen Zusammenbruchs.
In sowjetischen Archiven finden sich Dutzende solcher Aufnahmen. Mal stehen die Radfahrer inmitten von Trümmern, mal beobachten sie einen Soldat, der eine Fahne hisst, oder sie passieren langsam die Ruinen des Reichstags. Immer wirken sie unauffällig – und doch sind sie präsent. Vielleicht war ihre Rolle vielschichtiger, als wir heute rekonstruieren können.
Einige Forscher vermuten sogar, dass einer der beiden Radfahrer ein russischer Fotograf oder Kameramann in Zivilkleidung gewesen sein könnte. Das würde erklären, warum er Zugang zu verschiedenen Orten hatte und warum er sich ungehindert in militärischen Szenen bewegte. Eine andere Theorie besagt, dass es sich um ehemalige Kriegsgefangene handelte, die nach der Kapitulation durch die Stadt streiften, auf der Suche nach Orientierung oder einem Heimweg.
Für Berliner Bürger im Jahr 1945 war das Fahrrad oft das einzige Fortbewegungsmittel. Es war leise, verbrauchte keinen Treibstoff und konnte leicht durch zerstörte Straßen manövrieren. Fahrräder waren zudem einfach zu verstecken – ein Vorteil in einer Zeit voller Plünderungen und Unsicherheit. Vielleicht waren die beiden Männer auch einfach nur neugierige Beobachter, die sich unbewusst in die Geschichte hineinbewegten.
Was bleibt, ist das Bild: Ein einzelner Mann, ein Fahrrad, eine gebrochene Stadt. Keine Heldenpose, kein Pathos. Nur ein Mensch, der mitten in den Trümmern stehen bleibt und schaut.
Vielleicht liegt genau darin die Kraft dieser Fotografien. Sie erzählen nicht nur von großen Armeen, Diktatoren und Flaggen. Sie erzählen von Menschen – stillen, vergessenen Figuren, die den Übergang vom Krieg zum Frieden miterlebten. Vielleicht waren sie keine Soldaten, keine Reporter, keine berühmten Namen. Aber sie waren da.