Deutschlands „Paris-Geschütz“ im Ersten Weltkrieg – Die Kanone, die Paris aus über 120 Kilometern Entfernung erreichte!.H
Der Erste Weltkrieg war ein Krieg der Extreme. Neue Technologien, industrielle Massenproduktion und militärische Innovationen führten zu Waffen, die bis dahin unvorstellbar gewesen waren. Eine dieser Waffen war das sogenannte „Paris-Geschütz“, eine deutsche Fernkanone, die 1918 zum Einsatz kam und in vielerlei Hinsicht ein technisches wie auch ein symbolisches Projekt darstellte. Ihre Dimensionen, Reichweite und der psychologische Effekt auf die Zivilbevölkerung machten sie zu einer der bemerkenswertesten, wenn auch umstrittensten Erfindungen dieser Zeit.
Das Paris-Geschütz wurde von der Firma Krupp entwickelt, die bereits seit Jahrzehnten im Bereich der schweren Artillerie Pionierarbeit geleistet hatte. Mit einer Gesamtlänge des Rohres von 37 Metern und einem Gewicht von rund 256 Tonnen war es nicht nur ein technisches Meisterwerk, sondern auch ein logistischer Albtraum. Das Rohr war so lang und dünnwandig, dass es beim Abfeuern gestützt werden musste, um nicht durch das eigene Gewicht zu verbiegen.
Die Kanone verschoss Granaten mit einem Kaliber von 210 Millimetern, die jedoch durch den Verschleiß des Rohres im Laufe der Zeit auf bis zu 240 Millimeter anwuchsen. Jede Granate wog etwa 106 Kilogramm und musste speziell für diese Waffe hergestellt werden. Die Geschosse erreichten eine Höhe von fast 40 Kilometern, also den Bereich der Stratosphäre – ein bis dahin unerreichter Rekord für von Menschenhand geschaffene Objekte.
Das eigentliche Ziel des Paris-Geschützes war weniger ein militärisches als ein psychologisches. Mit einer Reichweite von über 120 Kilometern konnte es die französische Hauptstadt Paris treffen, obwohl die Kanone tief hinter den deutschen Linien aufgestellt war. Dies war zu jener Zeit eine völlig neue Dimension des Krieges: Zum ersten Mal konnten Zivilisten in einer Metropole aus solcher Entfernung bombardiert werden, ohne dass Flugzeuge oder Zeppeline beteiligt waren.
Die Flugbahn der Geschosse war so hoch, dass es ganze drei Minuten dauerte, bis sie Paris erreichten. Für die Menschen in der Stadt war es nahezu unmöglich, sich rechtzeitig zu schützen, und auch die Herkunft der Schüsse konnte zunächst kaum bestimmt werden.
Zwischen März und August 1918 feuerte das Paris-Geschütz etwa 350 bis 400 Granaten auf die französische Hauptstadt. Der militärische Schaden war vergleichsweise gering, doch die psychologische Wirkung war enorm. Die Bevölkerung lebte in ständiger Angst, und die Propaganda beider Seiten nutzte die Waffe für ihre eigenen Zwecke.
Die französische Presse sprach von der „Kanone, die aus dem Himmel schießt“, während die Deutschen das Geschütz als Beweis für ihre technische Überlegenheit darstellten. Allerdings kehrte sich dieser Effekt auch teilweise ins Negative um: Die gigantischen Kosten, der hohe logistische Aufwand und der geringe tatsächliche militärische Nutzen führten dazu, dass das Geschütz vor allem als Symbol einer verzweifelten Strategie gesehen wurde.
Der Betrieb des Paris-Geschützes war extrem aufwendig. Nach nur etwa 65 Schüssen war das Rohr so stark abgenutzt, dass es ausgetauscht werden musste. Zudem mussten die Schussbahnen mit höchster Präzision berechnet werden, da selbst kleinste Abweichungen zu Fehlschlägen führen konnten. Auch der Transport und die Montage der gigantischen Teile waren nur mit enormen Aufwand möglich.
Um die Position der Kanone geheim zu halten, wurde sie in speziell vorbereiteten Stellungen im Wald von Saint-Gobain nördlich von Paris aufgebaut. Tarnungen und Sicherheitstruppen sollten verhindern, dass alliierte Aufklärungsflugzeuge die Anlage entdeckten. Dennoch gelang es französischen Piloten später, die ungefähre Position zu lokalisieren und Bombenangriffe darauf zu fliegen.
Das Paris-Geschütz war in erster Linie eine Propagandawaffe. Es sollte zeigen, dass Deutschland über Mittel verfügte, den Krieg bis in die feindlichen Hauptstädte zu tragen. Doch im Rückblick gilt die Kanone als Symbol für den technologischen Gigantismus des Ersten Weltkriegs, bei dem wissenschaftliche und industrielle Kapazitäten in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß für den Krieg mobilisiert wurden.
Im Gegensatz zu anderen Innovationen, wie dem Maschinengewehr oder dem Panzer, blieb das Paris-Geschütz eine Sackgasse der Technik. Es wurde nie in größerer Stückzahl gebaut und konnte den Verlauf des Krieges nicht entscheidend beeinflussen.
Heute ist das Paris-Geschütz fast vergessen, doch in der militärischen Geschichte nimmt es einen besonderen Platz ein. Es war der Vorläufer späterer Fernwaffenprojekte wie der V2-Rakete, die im Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde. Beide hatten weniger strategischen Nutzen, dienten aber dazu, Schrecken zu verbreiten und das Bild technischer Überlegenheit zu vermitteln.
Das Paris-Geschütz zeigt eindrücklich, wie im Ersten Weltkrieg moderne Kriegsführung begann, die Grenzen zwischen Front und Heimatfront aufzulösen. Es war nicht mehr nur der Soldat an der Front betroffen, sondern auch die Zivilbevölkerung im Herzen Europas.