Wenn man heute am Berliner Hauptbahnhof steht, ist es kaum vorstellbar, dass genau an dieser Stelle einst ein ganz anderer Bahnhof das Stadtbild prägte: der Lehrter Bahnhof, ein beeindruckendes Bauwerk der wilhelminischen Ära, das zwischen 1868 und 1958 existierte. Heute ist von diesem einstigen Verkehrsknotenpunkt kaum noch etwas sichtbar – und doch lohnt sich ein Blick zurück, um die Geschichte dieses architektonischen Zeitzeugen zu verstehen.
Der Lehrter Bahnhof wurde zwischen 1868 und 1871 erbaut und war ursprünglich als Endbahnhof der Bahnstrecke Berlin–Lehrte (heute Teil der Verbindung nach Hannover) konzipiert. Seine Eröffnung fiel in eine Zeit großer politischer und wirtschaftlicher Umbrüche: Nur wenige Monate später wurde das Deutsche Kaiserreich gegründet – Berlin wurde zur Reichshauptstadt, und der neue Bahnhof war ein Symbol dieses neuen deutschen Selbstbewusstseins.
Die Architektur des Bahnhofs war typisch für die Zeit: eine Mischung aus Funktionalität und Pracht. Große Rundbögen, filigrane Stahlkonstruktionen und ein repräsentatives Empfangsgebäude machten ihn zu einem der schönsten Bahnhöfe der Stadt. Er lag strategisch günstig – direkt an der Spree, unweit vom Regierungsviertel.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Lehrter Bahnhof zu einem wichtigen regionalen und nationalen Verkehrsknoten. Täglich fuhren hier Züge nach Hannover, Köln und in andere westdeutsche Städte ab. Auch die Post nutzte den Bahnhof intensiv. Das angeschlossene Postamt zählte zeitweise zu den größten Deutschlands.
Der Bahnhof war dabei mehr als nur ein Verkehrspunkt – er war Teil des öffentlichen Lebens. In seinem Inneren befanden sich Schalterhallen, Wartesäle, Restaurants und Geschäfte. Für viele Reisende war der Lehrter Bahnhof das erste, was sie von Berlin sahen – und entsprechend repräsentativ wurde er betrieben.
Der Zweite Weltkrieg brachte wie für viele Teile Berlins auch für den Lehrter Bahnhof massive Zerstörungen mit sich. Bei Luftangriffen in den Jahren 1943 und 1944 wurde das Gebäude schwer beschädigt. Vor allem das Empfangsgebäude und Teile der Bahnsteighallen brannten aus oder stürzten ein.
Trotzdem wurde der Bahnhof nach Kriegsende zunächst weiter genutzt. In der Zeit der Berliner Luftbrücke spielte er allerdings keine wesentliche Rolle, da er im britischen Sektor lag und andere Bahnhöfe stärker involviert waren.
Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten und der Teilung Berlins verlor der Lehrter Bahnhof zunehmend an Bedeutung. Die Sektorengrenzen machten viele Zugverbindungen unattraktiv oder unmöglich. Zudem konzentrierte sich der Fernverkehr mehr auf den Bahnhof Zoo im Westteil der Stadt.
1951 wurde der Fernverkehr offiziell eingestellt, und 1958 begannen die Abrissarbeiten. Ein Teil der Ruine – vor allem das Postamt – blieb noch bis in die 80er Jahre stehen, ehe auch diese Überreste verschwanden. Jahrzehntelang war das Gelände eine Brache, auf der nur wenig an den einst imposanten Bahnhof erinnerte.
Vom Nichts zum neuen Hauptbahnhof
Erst nach der Wiedervereinigung rückte das Gelände des ehemaligen Lehrter Bahnhofs wieder in den Fokus der Stadtplaner. Im Rahmen der Hauptstadtplanung entstand die Idee eines neuen, zentralen Bahnhofs: der Berliner Hauptbahnhof, der schließlich 2006 eröffnet wurde – genau dort, wo einst der Lehrter Bahnhof stand.
Heute erinnern nur noch wenige Spuren – alte Karten, Fotos, Modelle – an den ehemaligen Bahnhof. Dennoch bleibt er ein faszinierendes Kapitel Berliner Stadtgeschichte. Seine Geschichte spiegelt das politische Auf und Ab der Stadt wider – von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis hin zur Teilung und Wiedervereinigung.
Auch wenn der Lehrter Bahnhof längst verschwunden ist, lebt er in vielen Erinnerungen weiter – in Familiengeschichten, historischen Romanen und alten Fotoalben. Er steht symbolisch für ein Berlin, das sich ständig verändert, aber seine Geschichte nie ganz vergisst.
In einer Zeit, in der viele Städte weltweit ihre alten Bahnhöfe renovieren und zu Kulturzentren umgestalten, bleibt die Frage: Hätte Berlin dieses Stück Geschichte bewahren sollen? Oder war der Abriss notwendig für den Schritt in die Zukunft?