Berlin im Jahr 1937 war eine Stadt voller Bewegung, voller Modernisierung und zugleich voller Spannungen. Die Fotografie, die den Bau des Nord-Süd-S-Bahntunnels am Potsdamer Platz zeigt, eröffnet uns ein Fenster in eine Epoche, in der Berlin sich in rasantem Tempo veränderte. Das Bild fängt nicht nur den technischen Fortschritt ein, sondern auch das lebendige Straßenleben jener Zeit.
Die Baustelle befand sich an einem der zentralsten Punkte der Stadt – direkt unter dem linken Tor an der Leipziger Straße. In der historischen Aufnahme ist das Dach der Anlage zu sehen, das damals Teil der provisorischen Baukonstruktionen war. Heute ist dieses Stück Geschichte im Technikmuseum Berlin zu bewundern, wo es als anschauliches Relikt einer vergangenen Epoche dient.
Das Umfeld des Potsdamer Platzes war 1937 ein Inbegriff urbanen Lebens. Straßenbahnen durchzogen die Leipziger Straße, Autos drängten sich durch den Verkehr, und zahlreiche Passanten gingen ihren täglichen Geschäften nach. Es herrschte eine Betriebsamkeit, die den Puls der Metropole deutlich spüren ließ. Das Bild, aufgenommen vom Gebäude der Mitteleuropäischen Reiseagentur, vermittelt den Eindruck, dass Berlin damals an einem Wendepunkt stand: einerseits stolz auf seine technische Leistungsfähigkeit, andererseits im Schatten einer politischen Entwicklung, die bald das Leben von Millionen Menschen verändern sollte.
Der Bau des Nord-Süd-S-Bahntunnels war ein Mammutprojekt. Bereits in den 1920er Jahren entstanden die Pläne, um die Stadtbahnlinien besser miteinander zu verknüpfen. Die Idee: eine direkte Verbindung von den nördlichen Stadtteilen Berlins, wie Wedding und Gesundbrunnen, bis hinunter nach Tempelhof und Mariendorf. Die S-Bahn sollte so noch stärker das Rückgrat des öffentlichen Nahverkehrs bilden. 1934 begann schließlich der Bau, und 1936 wurde der erste Teilabschnitt feierlich eröffnet. Im Jahr 1939 – kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – war die Strecke vollendet.
Die Bauarbeiten unter dem Potsdamer Platz stellten die Ingenieure jedoch vor enorme Herausforderungen. Das Grundwasser, der dichte Verkehr und die bestehenden Gebäude machten die Arbeiten kompliziert. Spezielle Techniken mussten eingesetzt werden, um den Tunnel unter den bestehenden Straßen und Plätzen hindurchzuführen. Die Berliner erlebten über Jahre hinweg eine Großbaustelle mitten im Herzen der Stadt – doch sie wussten, dass das Ergebnis die Mobilität der Hauptstadt auf ein neues Niveau heben würde.
Interessant ist auch, dass das Foto eine Mischung aus Vergangenheit und Zukunft zeigt. Einerseits wirken die Straßenbahnen und die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts fast schon traditionell, andererseits kündigte sich mit dem Tunnelbau eine moderne Verkehrsinfrastruktur an, die Berlin zu einer der besterschlossenen Städte Europas machte.
Doch während die Baustelle Fortschritt symbolisierte, spürte man 1937 auch den politischen Druck des nationalsozialistischen Regimes. Viele Projekte, auch im Bereich der Infrastruktur, wurden Teil der Propaganda. Der „moderne“ und „starke“ Staat wollte seine Bürger durch sichtbare Bauwerke beeindrucken. Gleichzeitig war Berlin zu diesem Zeitpunkt bereits auf Kriegskurs. Wenige Jahre später, während der Luftangriffe, sollten viele dieser Bauwerke beschädigt oder zerstört werden – auch die Anlagen am Potsdamer Platz.
Die Eröffnung des Tunnels im Jahr 1939 fiel in eine Zeit, in der sich die Weltlage dramatisch zuspitzte. Während Fahrgäste begeistert von der neuen schnellen Verbindung waren, begann mit dem deutschen Angriff auf Polen im September desselben Jahres der Zweite Weltkrieg. Bald wurde die S-Bahn auch für militärische Zwecke genutzt. Luftschutzräume entstanden in den Stationen, und die Tunnel wurden im Krieg zu Zufluchtsorten für Zivilisten.
Nach 1945 nahm das Bauwerk eine weitere besondere Rolle ein. Der Potsdamer Platz lag im geteilten Berlin an der Schnittstelle mehrerer Sektoren. Der Tunnel verband weiterhin Nord- und Südteile der Stadt, doch mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 wurde der Verkehr stark eingeschränkt. Viele Bahnhöfe entlang der Strecke wurden zu sogenannten „Geisterbahnhöfen“, an denen die Züge ohne Halt durchfuhren. Erst nach der Wiedervereinigung 1989/90 erwachte die Strecke wieder vollständig zum Leben und der Potsdamer Platz entwickelte sich – erneut – zu einem Symbol des modernen Berlins.
Heute erinnern Fotos wie das von 1937 an eine Stadt im Umbruch. Sie zeigen nicht nur Baukräne, Gerüste und Technik, sondern auch Menschen, die ihren Alltag lebten. Passanten auf dem Weg zur Arbeit, Kinder, die neugierig zur Baustelle blickten, und Arbeiter, die mit Spitzhacken und Schaufeln im Einsatz waren. Es sind diese Details, die das Bild lebendig machen.
Das Technikmuseum Berlin bewahrt nicht nur materielle Zeugnisse wie das Dach der Baustelle auf, sondern vermittelt auch den Geist dieser Epoche: den Glauben an Fortschritt, aber auch die Schattenseiten einer Zeit, die untrennbar mit Krieg und Diktatur verbunden ist.
Die Aufnahme vom Potsdamer Platz ist somit mehr als ein Dokument der Baugeschichte. Sie ist ein Spiegel der Berliner Stadtentwicklung, ein Zeugnis von Hoffnung und Fortschritt – und zugleich eine Mahnung, wie eng technische Errungenschaften mit politischen Entwicklungen verwoben sein können.
Wenn wir heute durch den modernen Potsdamer Platz gehen, mit seinen gläsernen Hochhäusern, Kinos und Einkaufszentren, ist es schwer vorstellbar, dass hier einst eine Großbaustelle für einen S-Bahntunnel existierte. Doch gerade der Blick zurück auf 1937 macht deutlich, wie stark Berlin von seiner Geschichte geprägt ist. Jeder Bauabschnitt, jede Schicht unter der Erde trägt Spuren vergangener Zeiten – und erzählt Geschichten von Menschen, die in einer bewegten Epoche zwischen Alltag, Fortschritt und drohender Katastrophe lebten.