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Abschied auf dem Bahnsteig – Ein letzter Blick zurück.H
Berlin, Winter 1939. Der Bahnhof liegt unter einer dicken Schneedecke. Eine Szene voller Stille, trotz des Stimmengewirrs der wartenden Menschen. Inmitten dieses winterlichen Chaos’ kniet ein jüdischer Vater auf dem eisigen Bahnsteig nieder. Seine Arme umschließen zärtlich seine kleine Tochter, die in einen schweren Mantel gehüllt ist, eine Identifikationskarte um den Hals und einen kleinen Koffer in der Hand. Es ist ein Moment des Abschieds – vielleicht für immer.
Diese Szene steht stellvertretend für den „Kindertransport“, eine der bewegendsten humanitären Rettungsaktionen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Zwischen Dezember 1938 und September 1939 konnten etwa 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen nach Großbritannien in Sicherheit gebracht werden. Die Kinder reisten allein, ohne ihre Eltern – diese mussten zurückbleiben, oft in ein Schicksal, das sie nie überlebten.
Das Bild, das diesen Abschied zeigt, ist von einer erschütternden Emotionalität. Man sieht keine Wut, keine laute Verzweiflung – nur diese stille, eindrückliche Umarmung. Die Kälte des Winters steht sinnbildlich für das, was dieser Vater fühlt: die Angst um das Kind, die Unsicherheit der Zukunft und das Wissen, dass dieses letzte Festhalten das Einzige ist, was ihm bleibt.
Der Vater weiß: Nur so kann er seine Tochter retten. Indem er sie gehen lässt. In ein fremdes Land, zu fremden Menschen, mit nichts als der Hoffnung, dass sie dort sicher sein wird. Das Mädchen scheint zu verstehen. Ihr Blick ist ruhig, fast erwachsen. In ihrer kleinen Hand hält sie den Mantel ihres Vaters – als wolle sie sich diesen Moment einprägen.
Rings um die beiden stehen weitere Kinder, ebenfalls mit Koffer und Namensschild. Einige weinen, andere blicken stumm ins Leere. Ihre Eltern bleiben im Hintergrund, verschwommen im Nebel des kalten Morgens, als hätte der Schmerz jede Kontur ausgelöscht.
Diese Aufnahme ist kein Einzelfall – sondern eines von tausenden ähnlichen Schicksalen. Für viele dieser Kinder begann ein neues Leben in England, in Pflegefamilien oder Heimen. Einige fanden Liebe und Geborgenheit, andere litten unter Heimweh, Einsamkeit und der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Eltern.
Für die zurückgebliebenen Eltern war es ein Opfer aus Liebe. Ein Kind gehen zu lassen, um ihm das Leben zu retten – wohl eine der schwersten Entscheidungen, die ein Mensch treffen kann. Viele Mütter und Väter sahen ihre Kinder nie wieder. Die meisten von ihnen wurden in Ghettos deportiert, in Konzentrationslagern ermordet – Auschwitz, Sobibor, Theresienstadt.
Heute erinnern uns Gedenkstätten, Stolpersteine und Bilder wie dieses an den Kindertransport. Doch sie erzählen nicht nur von Leid – sie erzählen auch von Mut, Mitgefühl und Hoffnung. Von Menschen, die in dunkler Zeit das Richtige taten. Von Kindern, die trotz Trauma und Verlust neue Leben begannen, Familien gründeten, Erinnerungen wachhielten.
Das Denkmal „Für die Kinder des Kindertransports“ in London zeigt eine Gruppe Kinder mit Koffern. Einige blicken hoffnungsvoll nach vorne – andere zurück. Dieses Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Verlust wird in diesem einen Moment am Berliner Bahnsteig eingefangen wie kaum sonst: Der Vater, der auf Knien Abschied nimmt, das Kind, das loslässt.
In einer Zeit, in der wieder Millionen Kinder weltweit auf der Flucht sind – aus Syrien, Afghanistan, dem Sudan oder der Ukraine – gewinnt dieses historische Foto neue Aktualität. Es erinnert uns daran, dass Menschlichkeit kein Relikt der Vergangenheit ist, sondern täglich gelebt werden muss. Dass jedes Kind in Not unsere Solidarität verdient. Und dass das Erinnern nicht nur Vergangenheit bewahren soll, sondern die Gegenwart gestalten kann.
Dieses Bild mahnt uns: Nie wieder. Nie wieder dürfen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Kultur entrechtet, verfolgt oder getrennt werden. Nie wieder darf ein Vater gezwungen sein, sein Kind in einen Zug zu setzen – mit nichts als Hoffnung im Gepäck.